Die Standardmethode zur Behandlung dieser speziellen Form des Speicheldrüsenkrebses war bislang eine Operation. Der HNO-Chirurg hätte die Geschwulst, die mittlerweile von der Größe eines Golfballs den gesamten Gaumenbereich zwischen Mundhöhle und Nasenraum eingenommen hatte, heraus geschnitten. In der Zehn-Stunden-OP hätte er ein Gewebestück aus dem Unterarm des Patienten entnommen, in das entstandene Loch im Gaumen verpflanzt und das Gaumensegel wieder rekonstruiert. Ein Luftröhrenschnitt wäre zudem nötig gewesen und der 76-Jährige hätte zeitweilig über eine Magensonde ernährt werden müssen. „Als ich das gehört habe, war das wie ein Schlag in die Magengrube. Die Operation hätte mein Leben aus der Bahn geworfen“, sagt Thamm im Rückblick. Nach Wochen auf der Intensivstation hätte er mühsam Schlucken und Sprechen wieder lernen müssen. Ob und wie er das überstanden hätte, mag er sich gar nicht vorstellen.
Doch so weit ist es nicht gekommen. Thamm hat den Krebs ohne schwere Operation überwunden, weil die Marburger Ärzte ihm eine hochwirksame Alternative anbieten konnten: Die Behandlung im Marburger Ionenstrahl-Therapiezentrum (MIT). Seit Oktober 2015 ist das MIT an der Uniklinik im therapeutischen Betrieb. Träger sind die Uniklinik Heidelberg und die Rhön-Klinikum AG. Im MIT werden hochenergetische Strahlen von Wasserstoff- oder Kohlenstoffionen erzeugt, die in das Tumorgewebe eines Patienten gelenkt werden. Die Besonderheit dieser Strahlung liegt darin, dass das auf dem Weg zum Tumor durchdrungene Gewebe kaum geschädigt wird. Erst im Tumor selbst entfalten die Strahlen ihre volle Wirkung. Wie ein Scharfschütze mit einem Präzisionsgewehr können die Mediziner den Tumor mit dem Strahl sehr genau erfassen und anvisieren und dann gewissermaßen abschießen. Das zerstörte Gewebe wird danach vom Körper abgebaut.
„Die Nebenwirkungen sind gering, was insbesondere für die Behandlung von Kindern wichtig ist: Ihr im Wachstum befindliches Gewebe bleibt weitestgehend geschont“, betont Prof. Rita Engenhart-Cabillic. Sie leitet die Klinik für Strahlentherapie und Radioonkologie in Marburg und Gießen und verantwortet auch den medizinischen Betrieb am Marburger Ionenstrahl-Therapiezentrum. Vom MIT versprechen sich Mediziner ganz neue Möglichkeiten der Krebsbehandlung. Wie im Fall von Harald Thamm. „Für den Patienten war die Partikeltherapie mit Kohlenstoffionen die beste Therapieoption auch im Hinblick auf die Lebensqualität“, sagt Engenhart-Cabillic.
„Als die Ärzte mir diese Therapiemöglichkeit angeboten haben, fiel mir ein Stein vom Herzen“, sagt der rüstige Rentner, Harald Thamm. „Ich fuhr jeden Tag die 30 Kilometer zur Klinik und war froh, nicht unters Messer zu müssen“. In acht Bestrahlungssitzungen im MIT und 28 weiteren mit konventionellen Röntgenstrahlen im UKGM wurde sein Gaumengeschwulst behandelt. Der Tumor ist weg, bilanzieren die Ärzte. Doch von einer Heilung wollen sie erst reden, wenn das die nächsten fünf Jahre auch so bleibt.
Das Ionenstrahl-Therapiezentrum in Marburg
Betrieb: Seit Oktober 2015 läuft im Marburger Ionenstrahl-Therapiezentrum (MIT) der Patientenbetrieb. Das Gebäude hat die Abmessungen einer großen Sportanlage, beherbergt einen Ringbeschleuniger für die Partikel und vier Behandlungsplätze.
Funktion: Im MIT werden hochenergetische Teilchen – entweder Wasserstoff-Ionen oder Kohlenstoff-Ionen – auf den Tumor geschossen. Die zerstörten Krebszellen werden vom Körper abgebaut.
Krebserkrankungen: Gesicherte Einsatzgebiete bei der Partikeltherapie sind Krebserkrankungen im Kopf-Hals-Bereich. Insbesondere Kinder profitieren von der Partikeltherapie. Studien sollen die gesicherten Behandlungswege weiter ausbauen, etwa für Prostatakrebs.